Point Of No Return

Es fällt mir sehr schwer, in diesen Stunden und Tagen Ruhe zu bewahren, und doch übe ich mich wesentlich darin, meinen Sprech-Eifer in Bahnen zu lenken, in denen ich es schaffe, mich verständlich zu machen.
Ich glaube, die Herausforderung dieser Tage für jeden einzelnen Menschen besteht darin, sich selbst wirklich kennenzulernen. Herauszufinden und zu überprüfen, was die ganz persönlichen Werte, Ideale und Lebensmaximen sind.
Gleichzeitig glaube ich, dass es nichts bringt, auf Vorwürfen anderen Menschen gegenüber sitzen zu bleiben, sei es nun, weil sie nicht genug Verantwortung für sich selbst übernehmen, oder sei es im größeren Rahmen, weil sie nicht schnell genug handeln und/oder (aus welchen Gründen auch immer) lebensrettende Maßnahmen unterlassen. 
Ja, wir müssen - mehr denn je! - kritisch und präzise sein mit denjenigen, die jetzt schwerwiegende und große Entscheidungen treffen. 
Aber wir sollten unsere Kräfte und Energien nicht daran vergeuden, andere anzuprangern, sondern alles dafür tun, unsere eigenen Ressourcen so sinnvoll wie möglich einzusetzen.
Wenn ich mich wirklich selbst kennenlernen will, muss ich mich anschauen, wie ich wirklich bin. Dann muss ich mir zum Beispiel meine Wut anschauen; meine Wut darüber, dass ich am Donnerstag (12.03.2020) noch zum Theaterspielen im öffentlichen Raum verpflichtet wurde, trotz verausgabender Versuche meinerseits, das zu verhindern.
Mich von meiner Wut leiten zu lassen und dieses Theater nun anzuprangern macht mich aber nicht größer oder klüger oder gar „besser“. Und die Situation erst recht nicht. Was ich aber tun kann, ist zum Beispiel, über mein Erlebnis zu berichten, um anderen Kunstschaffenden Mut zu machen und meine Erfahrung zur Verfügung zu stellen.
Mein Zeitalter ist ein schwieriges, eines, in dem es viel Angst gibt. Das ist nicht nur unangenehm und ungesund, sondern gefährlich.
Was wäre, wenn ich meine Angst nicht nur versuche wegzuschieben oder loszuwerden (was ohnehin nicht wirklich gelingt), sondern sie offen betrachte, um so genau wie möglich herauszufinden, was sie mir für Informationen über mich bereithält?
Meine Angst - die Angst, die mir dieser Tage zuweilen ins Gesicht geschrieben steht, die nun manchmal an meiner Stimme zu hören ist - ist nicht die Angst zu erkranken, oder gar zu sterben. Meine Angst speist sich aus meiner Verzweiflung; Verzweiflung darüber, erleben zu müssen, dass Verantwortung einfach nach oben abgegeben wird. Dass die Regeln befolgt werden, ohne selbst ein Stückchen mit- und weiterzudenken. Und dass ich mir als Konsequenz kaum auszumalen wage, was folgt, wenn die große Masse in Angst und Schrecken fallen wird. Hier wird die Angst sogar zur Furcht, die die Macht hätte, mich zu überschwemmen und in eine Schockstarre fallen zu lassen. Dagegen wehre ich mich. Aber das gelingt mir nur durch Auseinandersetzung mit mir selbst.
Am besten allerdings hilft es, nicht allein zu sein. Doch um nicht allein zu sein, müssen wir wissen, wer wir sind - damit wir überhaupt die Möglichkeit haben, uns gegenseitig zu verstehen, und somit erst fähig zu wahrer Gemeinschaft werden.
Die schönste Quelle meiner Kraft in diesen Tagen ist mein Staunen darüber, wie unser Planet sich - nachdem die Menschheit es trotz 5 vor 12 nicht geschafft hat, den Systemwandel für das Klima wirklich einzuleiten - nun tatsächlich selber hilft: Durch den radikalen Stopp von Flugzeug-, Schiff- und Pkw-Verkehr und den Shutdown vieler Firmen wird der CO2 Ausstoß plötzlich entscheidend reduziert. Flüsse regenerieren sich innerhalb kürzester Zeit. Die Luftverschmutzung geht maßgeblich zurück. Und: wir Menschen sind durch Quarantäne und Isolation gezwungen zu lernen, wie wir gut und liebevoll mit uns selbst und mit anderen umgehen können.
»Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.« (Kafka)
Mein größter Wunsch ist es - wenn wir Corona überwunden haben werden - nicht einfach den Schalter wieder auf ON zu stellen und weiterzumachen wie davor. Sondern zu verstehen, was uns diese Krise gerade beibringen kann. Nie hat es uns die Natur einfacher gemacht, sie zu begreifen, als jetzt.
Wir. Sind. Die. Welt.
Jeder einzelne Mensch.
Und wir entscheiden, was für eine Welt das ist.

 

geschrieben am 18.03.2020

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